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Weiß ich nur wenn ich wachen Auges bin? Oder:Kann Klang Wissen vermitteln? von Armin Moriabadi


Zweifelsohne ist unser Verständnis von Wahrnehmung und Erkenntnis in einem grundsätzlich visuellen Fundament verankert. Belege allein in der Sprache finden sich zahlreiche. Der Klang und das Hören dagegen waren dem Bild und Sehen sowohl in Erkenntnistheorie als auch in den Kognitionswissenschaften stets untergeordnet. Natürlich hat es auch auf diesem Gebieten kritische Denkende gegeben, welche jedoch langfristig gesehen in der Debatte kein Gehör finden sollten. Eine Tätigkeit des Menschen jedoch wurde im wissenschaftlichen Konsens immer ausgeklammert, eben weil ihr sowohl das visuelle Moment fehlte als auch das Konzept des „Geistes“ bei dieser keine rechte Anwendung erfahren konnte: der Schlaf. Während der Mensch schläft, scheint er nicht erkennen oder gar wissen zu können, da er einerseits nichts wahrzunehmen und andererseits nicht einmal zu sein scheint. Im Schlaf ist das Bewusstsein im Sinne eines „Geistes“ von der Welt getrennt, also schloss man daraus auch eine vorübergehende Abwesenheit all dessen, was dieser bewerkstelligt, also auch das Erkennen. Die Frage, die der Schlaf als eine unbewusste Tätigkeit den etablierten Theorien stellt ist eine höchst herausfordernde: Kann es Wissen unabhängig von (geistigen) Bewusstsein geben? Wenn man nun den Fokus erweitert und dem Primat des Visuellen entsagt, ergeben sich vielleicht Antworten.

Dass der Schlaf kein Zustand kompletter Wahrnehmungslosigkeit ist, versteht sich von selbst, sonst würde er nicht nur als „kleiner Bruder“ des Todes bezeichnet werden. Was aber, wenn der Schlaf Anzeiger für Wahrnehmungen ist, die sonst unbemerkt bleiben und vielleicht deswegen die Dominanz des Visuellen erklären? Schon Leibniz hatte diesen Gedanken gefasst und darauf aufbauend eine alternative Erkenntnistheorie entwickelt. In Auseinandersetzung mit John Lockes „Essay Concerning Humane Understanding“ führte er den Begriff der „petites perceptions“, kleiner Wahrnehmungen, die ständig präsent sind, aber so schnelllebig und zahlreich, dass sie nicht einzeln bewusst wahrgenommen werden können. (Sie sind nach Leibniz nicht deutlich, sondern höchstens verworren erkennbar). Wohl nicht ganz zufällig nimmt sich Leibniz den Schlaf zum Beispiel:

Man schläft nie so tief, daß man nicht immer noch eine schwache und konfuse Empfindung hätte, und man würde niemals vom größten Lärm der Welt geweckt, wenn man nicht eine gewisse Wahrnehmung seines Anfangs hätte, der ganz klein ist [1]

Ob sich Leibniz Theorie der „petites perceptions“ als Grundlage seiner Monadenlehre noch angesichts neuerer Forschung halten lässt, soll nicht Thema dieses Beitrags sein. Dennoch verwies Leibniz mit besagter Äußerung auf die Unzulänglichkeit der visuell geprägten Erkenntnistheorie. Dass ein Mensch also notwendigerweise wahrnehmen muss, wenn er schläft, ist nicht der Rede wert. Leibniz jedoch ging einen Schritt weiter und schrieb den perceptions das Potenzial, Gegenstände der deutlichen (also bewussten) Wahrnehmung, der Gedanken zu sein, zu. Jürgen Trabant fasst es ganz treffend in Bezug auf vorgestelltes und weitere Beispiele Leibniz‘ aus:

Die kleinen Perzeptionen sind zwar konfuse Vorstellungen, aber sie sind doch da, und zwar immer. Also denken wir auch immer. Die petites perceptions machen, daß wir gar nicht denken können. Und es ist kein Zufall, dass Leibniz die petites perceptions an akustischen Ereignissen exemplifiziert: Wir können die Ohren nicht schließen wie die Augen, wir können die Ohren nicht abwenden wie den Blick. […] Leibnizens Beispiel sind die Mühle, der Wasserfall und das Rauschen des Meeres: […] lauter lärmendes Wasser. […] Wenn wir an einer Mühle […] wohnen, […] trifft deren Klappern und Rauschen immer auf unser Ohr, auch wenn uns diese Eindrücke unbewusst bleiben und wir aus Gewöhnung nicht mehr darauf achten, weil wir mit anderem beschäftigt sind […][2]

Hier offenbart sich auch die Bedeutung des Klangs für einen Ausweg aus der visuellen Sackgasse. Liegt dem Klang vielleicht eine verborgene Dimension des Erkennens und Wissens zugrunde?

Hinweise darauf könnten neuere Ergebnisse aus der Schlafforschung liefern. Eine Studie aus dem Jahr 2019[3] von einem Team um Guillaume Legendre von der École Normale Supérieure in Paris etwa zeigte auf, wie selektiv das Gehirn auch im Schlaf arbeitet. So wurde festgestellt, dass es wohl vielmehr einen Unterschied macht, welche Klänge (in Form von zwei akustisch ähnlichen Stimmen, deren Äußerungen sich jedoch stark unterschieden) an das schlafende Ohr gelangten, als deren Lautstärke. Das Gehirn filterte bestimmte Geräusche, die es offenbar als sinnhaft bewertet hatte (die Stimme, deren Äußerungen Sinn ergaben) heraus und verarbeitete diese anders als die „sinnlosen“ Geräusche. Ein weiteres Rätsel stellt der Ammenschlaf, also die besondere Geräuschempfindlichkeit von Eltern während des Schlafens in der Zeit, zu der ihr Nachwuchs noch ein Säugling ist, dar. Wie sich diese Reizaffinität erklären lässt, ist nicht vollständig geklärt, fest steht jedoch, dass sämtliches Geräuschempfinden zunächst auf die Leichtschlafphase beschränkt ist. Skeptikern muss an dieser Stelle entgegengehalten werden, dass diese Phase einen großen Anteil am gewöhnlichen Schlaf hat und daher nicht von „Ausnahmen“ gesprochen werden kann. Doch selbst im Tiefschlaf scheinen mehr oder weniger bewusste Prozesse nicht komplett ausgeschlossen zu sein. So gibt es den bei Schlaflaboren inzwischen anerkannten und auch berücksichtigten „Erste-Nacht-Effekt“, der beim Wechsel des gewohnten Schlafortes auftritt. Während der Zeit der neuen Schlaferfahrung oder Umgewöhnung haben viele Menschen Probleme gut durchzuschlafen. Grund dafür könnte laut einer Publikation im Wissenschaftsmagazin „Current Biology“[4] von einem Team um Masako Tamaki ein temporärer leicht ausgeprägter Halbhirnschlaf sein. Demzufolge bleibt eine Hirnhälfte „in Bereitschaft“ und tritt nicht in die Phase des Tiefschlafs ein. Welche Hirnareale und neuronalen Netzwerke diesen Effekt hervorrufen und ob nicht nur in ungewohnten Schlafsituationen ein Aktivitätsmissverhältnis der beiden Hirnhälften besteht, ist noch nicht geklärt. Nichtsdestotrotz lässt sich mit den genannten Beispielen verdeutlichen, dass essenzielle (und in diesem Falle von Forschern sogar vermutete potenziell überlebenswichtige) Wahrnehmung und Erkenntnis auch in Situationen völliger Blindheit und scheinbarer Bewusstlosigkeit stattfinden. Das Beispiel der Stimmerkennung vertieft diese Annahme deutlich, da hier nicht nur einfach wahrgenommen wird (also Informationen aufgenommen werden), sondern auch ein Entscheidungsprozess stattfindet (die Informationen je nach Bewertung unterschiedlich verarbeitet werden).

Es stellt sich nun die Frage, wie es sich nach Aufnahme dieser Ergebnisse mit dem Wissen verhält. Zweifellos macht es einen Unterschied, ob Stimmen nach ihrem Informationsgehalt von einem Wachen oder einem Schlafenden wahrgenommen werden. Und dennoch ist der Schlaf in seiner überraschenden Aktivität ein weiterer Makel im Bild des hauptsächlich durch die Augen erworbenen Wissens. In Bezug auf das Wissen an sich jedoch spielt die „Unbewusstheit“ und damit das Implizitsein der beschriebenen Prozesse eine viel größere Rolle. Gemeinhin wird Wissen oft mit bewusst Erlerntem definiert, und umgekehrt leitet sich der Begriff des Bewusstseins aus „Wissen“ ab. Schon seit einigen Jahren aber ist man in der Hirnforschung zur Annahme gelangt, dass ein Großteil aller Prozesse, Tätigkeiten und auch Entscheidungen unbewusst ablaufen. Und selbst erworbenes Wissen wird bei fortgeschrittener Verinnerlichung zunehmend unbewusst angewandt. Besonders zeigt sich dies bei Bewegungsvorgängen, die nicht nur den Sehapparat, sondern eine Vielzahl von Körperregionen beanspruchen. Die alte Trennung von sensorischer Aufnahme und motorischer Tätigkeit wird in den jüngeren kognitionswissenschaftlichen Ansätzen ohnehin nicht mehr aufrechterhalten. Problematisch war auch hier bisher die starke Gewichtung des visuellen Systems in den meisten der durchgeführten Experimente. Als Reaktion auf diese Unzulänglichkeiten wurde der Kognitionsbegriff weiter gefasst. Eines der bekannteren Modelle ist das „4E- Modell“: Kognition manifestiert sich danach erweitert (Extended), verkörperlicht (Embodied), aus der Interaktion mit der Umwelt heraus enaktiviert (Enactive) und (kulturell und in die Umwelt) eingebettet (Embedded). Besonders der Aspekt der Verkörperlichung hat mit der Entdeckung von Spiegelneuronen und im Zuge der Common-Coding-Theorie große Beachtung gefunden. Dies zeigt sich auch beim Klang. In ihrem Artikel „Musik als nicht-repräsentationales Embodiment“ thematisiert Jin Hyun Kim die Bedeutung von „embodied cognition“ für das Erleben von Musik und der Ausbildung musikalischer Praxis. Kim greift dabei zunächst die Thesen der Musikforscher Stephen Davies[5] und Elizabeth H. Margulis[6] auf und differenziert den Wissensbegriff wie folgt:

Musikalisches Wissen besteht aus explizitem und implizitem Wissen. Unter explizitem Wissen wird musiktheoretisch vermitteltes oder durch Musikanalyse zugängliches und geformtes Wissen verstanden […]. Dieses explizite Wissen beinhaltet u. a. musiktheoretische Begriffe […]. Zum impliziten musikalischen Wissen zählt beispielsweise die Befähigung der Wahrnehmung der (tonalen) Orientierung oder des klangfarbe-bezogenen Merkmals eines Musikstückes […], aber auch der Metrumerkennung und der Koordination von musikalischem Rhythmus und körperlicher Bewegung […][7].

Kim verweist anschließend auf Experimente der Säuglingsforschung, die belegen, dass die Körperwahrnehmung geradezu essenziell für das Ausbilden musikalischer Grundfertigkeiten wie etwa der Rhythmuswahrnehmung ist. Das implizite Wissen wird demnach selbst aus der Interaktion des Körpers mit der Umgebung heraus durch sich wiederholende (hier metrisch/rhythmische) Muster verinnerlicht[8]. Ebenso greift Kim die von Maurice Merleau-Ponty begründete und von Shaun Gallagher, Michael B.N. Hansen und John M. Krois weiterentwickelte Binnendifferenzierung und Hierarchisierung dieser Körperwahrnehmung, nämlich Körperschema und Körperbild, auf, wonach ersteres, durch unbewusste habituelle Kognition gekennzeichnet, letzteres, das „[den Körper als] ein Objekt oder einen Inhalt des intentionalen (oder noetischen) Bewusstseins“[9] erst begründe[10]. Musikalisches Wissen sei demnach schon im Säuglingsalter implizit zugänglich und nicht auf ein erst später ausgebildetes (Ich-)Bewusstsein angewiesen[11]. Die durch das Körperschema ermöglichte Aneignung von musikalischem Wissen hat für Kim aber noch eine tiefere Bedeutung. Den Terminus „kommunikativen Musikalität“ der Entwicklungspsychologen Stephen Malloch und Colwyn Trevarthen aufnehmend, schlussfolgert sie:

Insbesondere weist [die] Interaktion [der Kleinkinder] rhythmische Formen synchronisierter Koordination auf. Es wäre anzunehmen, dass das Körperschema, das die eigenen Bewegungen vereinheitlicht, solcher Interaktion unterliegt, wobei es auch ohne das Hören – mit anderen Sinnesmodalitäten – auskommen könnte […], dennoch als eine Basis für eine vorsprachlich-musikalische Interaktion dienen würde […]. Multimodale Musikalität könnte somit als eine Grundfähigkeit des Menschen verstanden werden, aufgrund derer Kleinkinder lernen, in Interaktion mit der Umwelt und den Mitmenschen die anderen zu verstehen, ohne sprachlich zu kommunizieren[12].

Kim geht mit ihrer Annahme noch viel weiter, als frühere Kritiker der visuellen Hegemonie in der Epistemologie wie Leibniz je gegangen waren. Gerade der Bedeutungszuwachs der Sprache als Gegenstand und Voraussetzung von Wissenserwerb und Erkenntnis sowie die beginnende Klassifikation von Wissenschaft als genuin kommunikativer Praxis in der wissenschaftlichen Debatte im 18. Jahrhundert hatte nämlich deren Überlegungen begleitet und gefördert. Dass nun aber nicht nur ein spezieller Klang, das sprachliche Vernehmen, sondern diesem vorausgehende grundlegendere Klangstrukturen Kommunikation und damit Wissen ermöglichen, ist eine Theorie die, gemessen an ihrer immer häufigeren experimentellen Bestätigung, das Privileg des Visuellen bei der Generation und Vermittlung von Wissen gravierend infrage stellt.

Gerade das Phänomen Schlaf könnte ein vielversprechender Kandidat bei der weiteren Suche nach Antworten auf die neuen Fragen, die Kim mit ihrer Überlegung stellt, sein. Fragt man beispielsweise nach der Herkunft der beschriebenen Bevorzugung des Hörens seitens des menschlichen Körpers, könnte eine, zugegeben kühne und nur schwer beweisbare, aber nicht minder spannende These lauten, dass sich diese Bevorzugung aus der evolutionären Notwendigkeit der unbewussten auditiven Aufmerksamkeit während des Schlafes heraus ergibt. Nimmt man zudem in Betracht, dass zwar auch andere Sinnesmodalitäten wie das Riechen zwar den Schlaf in seiner Effizienz beeinflussen können, aber nicht so stark, uns aufzuwecken[13], wiegt der Wert des Klangs noch einmal schwerer. Eine andere Dimension des Schlafs ist die Ruhephase, in die sich der Körper begibt. Auch hierbei sind nicht intentional bewusste Aspekte relevant. So ist wohl ein bestimmtes Frequenzspektrum, für den menschlichen Schlaf kennzeichnend. Auf diesen Zusammenhang sind aber nicht nur Wissenschaftler aufmerksam geworden. Der britische Komponist Max Richter hatte sich sowohl in der Produktion als auch der Performance seines Albums „Sleep“ daran interessiert gezeigt und in Zusammenarbeit mit dem Neurologen David Eagleman diesen Sachverhalt berücksichtigt:

“We [Richter und Eagleman] talked a little bit about some research where they’ve used kind of repetitive, low frequency sounds to support the slow-wave state of sleep, which is where you get memories of being transferred from sort of temporary into permanent stuff and information structuring and learning and stuff. It’s basically what gives rise to that phrase ‘I’ll sleep on it.’ … It’s a real thing“.[14]

Interessant hierbei ist, dass Richter sein Werk nicht einfach nur konzertant aufführen, sondern es bewusst schlaf-unterstützend gestalten wollte. Zu diesem Zwecke sollten etwa in New York 560 Besucher gemeinsam zu den Klängen des Albums einschlafen5. Der Schlaf selbst wird somit zum kommunalen Akt erhoben. Doch nicht nur der Schlaf als Prozess, sondern auch dessen Inhalt, die Träume, sind mit Klang verbunden. Natürlich sind Träume als unbewusste Vorgänge ein Ausdruck der Verarbeitung des im Wachzustand erlebten und Erlernten. Wie verhielte es sich aber, wenn der Klang auch dabei behilflich sein könnte, sich das Träumen bewusst zu machen? Hinweise aus der Forschung über luzide Träume gibt es bereits, allerdings hinsichtlich des Erfolges nicht einheitlich. Das hat aber Künstler nicht davon abgehalten, diesem Thema weiter nachzugehen und das Interesse an diesem wachzuhalten. In diesem Jahr fand im Rahmen des CTM Festivals im Funkhaus in Berlin das Experiment „Sonic Cinema“ von William Russel statt. Dabei sollten allein durch bloße Klänge und Musik besondere emotionale und wahrnehmungsbezogene Reaktionen der Besucher provoziert werden, die zudem die Grenze zwischen Realität und Traum, Bewussten und Unterbewusstem unscharf machen solle, so wie es luzide Träume tun6. Russel meinte in einem Interview, in dem er und seine künstlerische Partnerin Gratia den Raum des Geschehens, das von beiden gegründete MONOM und dessen 4D-Soundtechnik, die nicht wie herkömmliche Soundsysteme auf einen bestimmten Punkt im Raum ausgerichtet ist, vorstellten:

Wir sprechen von Sonic Cinema. Filmische Erfahrungen mit Klang zu erzeugen. Das MONOM kann eine neue Plattform für Storytelling werden. Man kann Geschichten erzählen und sich gleichzeitig in diesem Raum bewegen. Das sind cineastische Erfahrungen, die immersiv sind und noch mal völlig neue Perspektiven eröffnen.[15]

Doch selbst wenn sich der Zusammenhang von Klang und bewussten Träumen nur als marginal herausstellen sollte, zeigen William Russells Arbeiten in dem von ihm gestalteten Aufnahmeraum im Funkhaus dennoch, wie wichtig Klang für die Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt und die darin eingebettete Kognition ist. Russel plädierte im selben Interview für eine neue Konzipierung des Klanges bei öffentlichen Veranstaltungen:

William: Bei 4DSOUND hat man Klang als Audio-Hologramm gedacht und umgesetzt. Der Sound wird zu einer physischen Entität, die durch den Raum bewegt werden kann. […] Gratia: Hier [im MONOM] erschließt sich der Klang häufig erst durch deine Bewegungen im Raum. […] William: Das ist die vierte Dimension: Du als Rezipient, der sich im Raum bewegt und ständig eine einzigartige Erfahrung generiert. Gratia: Man interagiert anders mit der Musik. Die eigene Bewegung wird zum wesentlichen Bestandteil.[16]

Russell verfolgt mit seiner 4D-Soundtechnik eigenen Worten zufolge naturalistische Ziele: Der Klang soll wieder wie zur Zeit vor der Digitalisierung des Klanges etwas dynamisches, aber nicht vom Raum getrenntes sein, sondern ein eigener Raum sein, der Bewegung und damit Verkörperlichung von Wahrnehmungen und somit schlussendlich Erlangung eines (räumlichen) Wissens verlangt.

Nach diesem weitgefassten Exkurs bleibt abschließend festzuhalten, dass dem Klang offenbar eine besondere Rolle in dem Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, das sich nur durch dessen Erkenntnis einzustellen vermag, zukommt. Hatten frühere Philosophen und Forscher schon das klassisch visuell geprägt Verständnis dieser angezweifelt, sind doch erst in den letzten Jahrzehnten entscheidende Fortschritte in dieser Angelegenheit gelungen. Ein wichtiges und zudem seit dessen größerer Beachtung nicht minder interessantes Phänomen ist dabei der Schlaf, wie er schon, wenn auch ohne nähere Betrachtung seitens der Zweifler, namentlich Leibniz, thematisiert wurde. Besonders auf diesem Gebiet verdichten sich die Anzeichen, dass es vor allem der Klang und nicht das Bild ist, was dem Menschen sowohl aus sich heraus Wissen erlangen lässt als auch als Basis für Kommunikation die Vermittlung von Wissen erst möglich macht. Es bleibt zu hoffen, dass neben den weiteren Ergebnissen aus der Hirn-, Säuglings- und Verhaltensforschung sowie aus der Entwicklungspsychologie auch in künstlerischen Belangen der vielfältige Charakter, aber auch die grundlegende Bedeutung des Klangs für den Menschen zunehmend Beachtung findet.

[1] Leibniz, G.W. in J. Trabant, Der akroamatische Leibniz, in: Paragrana 2 (1993), 64–71, 68. [2] Ebd. 68. [3] G. Legendre u. a., Sleepers track informative speech in a multitalker environment, in: Nature Human Behaviour 3 (2019), 274–283. [4] M. Tamaki u. a., Night Watch in One Brain Hemisphere during Sleep Associated with the First-Night Effect in Humans, in: Current Biology 26 (2016), 1190–1194. [5] S. Davies, Musical Meaning and Expression 1994; J.H. Kim, Musik als nicht-repräsentationales Embodiment. Philosophische und kognitionswissenschaftliche Perspektiven einer Neukonzeptionalisierung von Musik, in: Musik und Körper2017, 145–164. [6] E.H. Margulis, On Repeat: How Music Plays the Mind, New York, NY 12013, 168. [7] Kim, Musik als nicht-repräsentationales Embodiment. Philosophische und kognitionswissenschaftliche Perspektiven einer Neukonzeptionalisierung von Musik, 151. [8] Beachtet man dass Kim unter „musikalischem Wissen“ nicht nur rhythmische, sondern auch tonale Komponenten (s.o.) versammelt sieht, kommt unter Einbezug von Legendres und Tamakis Experimenten dem Schlaf erneut Bedeutung zu [9] M.B.N. Hansen, Bodies in code interfaces with digital media / Mark B.N. Hansen, New York ; London 2006, 39. [10] J.M. Krois, Bildkörper und Körperschema: Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen / John M. Krois ; herausgegeben von Horst Bredekamp und Marion Lauschke (Actus et Imago BV040636742 Band 2), Berlin 2011, 258. [11] Kim, Musik als nicht-repräsentationales Embodiment. Philosophische und kognitionswissenschaftliche Perspektiven einer Neukonzeptionalisierung von Musik, 154. [12] Ebd. 155f. [13] I. Schroer, Beeinflussung der Gedächtnisbildung durch Geruchsexposition im Schlaf unter Verwendung der Gerüche Citral und IBA2011, 22f. [14] C.R. Weingarten/C.R. Weingarten, Composer Max Richter’s 560-Bed „Sleep“ Concert Coming to Los Angeles 2018. [15] Virtuelle Klangwelten und die Emanzipation von Techno - Ein Interview mit Gratia Napier und William Russell von MONOM, /sounds/virtuelle-klangwelten-und-die-emanzipation-von-techno-ein-interview-mit-gratia-napier-und-william-russell-von-monom (Stand: 11.08.2020; Abruf: 11.08.2020). [16] Ebd.

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